Wie Geschichte erzählt wird – Athen

Man muss nicht Geschichtswissenschaften studiert haben (es schadet aber auch nicht), um zu wissen, dass Geschichte nichts Objektives oder gar „die Wahrheit“ ist. Nicht umsonst bezeichnet das Wort Geschichte sowohl historische Ereignisse als auch fiktive Narrative. Geschichte wird konstruiert, in dem einzelne Daten, Geschehnisse und Akteur*innen in den Fokus gestellt und andere dem Vergessen anheim gegebenen werden. Dafür benötigt es immer Personen, die aus welchen Gründen auch immer, über die Autorität verfügen, zu bestimmen, was Teil der offiziellen Geschichte ist und was nicht.

Die Konstruktion von Geschichte lässt sich in Athen wunderbar nachvollziehen. Geradezu klischeehaft ist das Stadtbild von, häufig weithin sichtbaren weil auf Hügeln erbauten, antiken Ruinen geprägt.

Für den Kopf

Wir haben uns zunächst die antike Nekropole Kerameikos angeschaut:

Und dann natürlich die Akropolis mit dem beeindruckenden Parthenon bestiegen.

Das ist schön, wirkt ganz toll historisch und erinnert die Tourist*innen, die noch den dazugehörigen Schulunterricht präsent haben, an die Errungenschaften der griechischen Klassik und Griechenlands Platz in Europa als Wiege der Demokratie.

Das Bild ist aber eine Illusion und das aus verschiedenen Gründen.

Ein geografischer Grund erschließt sich Besucher*innen schon recht augenscheinlich, sobald einer der Hügel (und sei es die Akropolis) erklommen ist und deutlich wird, a) wie groß Athen wirklich ist und b) welchen kleinen Teil der Stadt Tourist*innen wirklich zu sehen bekommen. Nämlich den, mit den antiken Ruinen, den man in 2 Stunden zu Fuß von einem Ende zum anderen durchlaufen kann.

Für einen weiteren Grund muss man schon das Gehirn aus dem Urlaubsmodus holen und sich die Frage stellen, was eigentlich nach der griechischen Antike los war. Da gab es noch das Römische Reich und dann? So viel man zu antiker Geschichte in Athen erfährt, so ahistorisch erscheint die Zeit danach. Wo findet sich sonst noch Geschichte? Vielleicht am Grab des unbekannten Soldaten vor dem Parlamentsgebäude, an dem Soldaten mit lustigen Bommeln an den Schuhen einmal täglich den Wachwechsel praktizieren? Aber welche Kriege, welche Soldaten sind hier gemeint?

Griechenland war lange Zeit Teil des Osmanischen Reiches, doch auch aus dieser Zeit finden sich nicht viele Zeugnisse. Und damit nähern wir uns schon zwei wesentlichen Faktoren, die den Umgang mit der antiken Geschichte in Athen/Griechenland und die selektive Geschichtspräsentation erklären: die Nationwerdung Griechenlands in den 1820iger Jahren und der parallele Kolonialismus europäischer Mächte, allen voran des britischen Empires.

Wer glaubt, dass in Athen schon immer Zeit und Geld in den Erhalt des antiken Kulturerbes gesteckt wurde, der täuscht sich. Wie auch im Rest Europas gibt es die Vorstellung vom Erhalt historischer Stätten als kulturelles Erbe eines Landes bzw. einer Nation erst wirklich seit dem 19. Jahrhunderts. Nationen legitimieren sich, in dem sie sich eine Geschichte geben, die sich natürlich ausschließlich an Höhepunkten oder an dramatischen und heroischen Wendepunkten orientiert. Deshalb bietet die Zugehörigkeit zum Osmanischen Reich für Griechenland nicht viel nationales Potenzial während seit dem 19. Jahrhundert Geld und Aufmerksamkeit in die Restauration antiker Stätten als Beispiele für die griechische Großartigkeit fließt, die vorher eher als Steinbrüche dem Zerfall preisgegeben waren.

Gleichzeitig belegt Griechenland, in der Zuschreibung europäischer Reisender und Einflussmächte im 19. Jahrhundert einen ausgesprochen ambivalenten Platz zwischen dem, was man als „Orient“ bezeichnete und dem „zivilisierten Okzident“, den man in einer Reihe mit der griechischen Klassik verstanden hat.

Wer die Geschichte Griechenlands und Athens erzählt, spielt also ebenfalls eine ganz wesentliche Rolle. Das konnten wir wunderbar anhand zweier Museen nachvollziehen.

Das Benaki Museum für Griechische Kultur zeigt die private Sammlung des wohlhabenden Sohnes eines Athener Bürgermeisters und schreibt sich auf die Fahne, die Geschichte Griechenlands in allen Epochen zu zeigen.

Wie leider häufig bei privaten Sammlungen, sind die Exponate nicht nach wissenschaftlichen sondern primär nach künstlerischen Aspekten ausgewählt. Es fehlt daher häufig an Kontext.

Nach der griechischen Klassik besteht die Geschichte Griechenlands in diesem Museum scheinbar noch aus der Etablierung der griechisch-orthodoxen Kirche, Folkloristischem und ein wenig islamischer Kunst.

Ab dem 19. Jahrhundert wechselt die Perspektive und man erfährt über die Griechenland nur noch aus der Sicht westlicher, europäischer Reisender, die die „orientalischen“ Eindrücke in Zeichnungen und Gemälden festgehalten haben. Zu dieser Erkundung gehörte auch, dass sie sich als Hobby-Archäologen an der Ausgrabung antiker Städten betätigt haben, weil die Menschen in Griechenland aus ihrer Sicht, ihre eigene Geschichte und ihren historischen Platz in Europa vergessen und damit das Anrecht darauf verloren hatten, während die griechische Klassik in Westeuropa gerade eine Renaissance erlebte.

Im Benaki Museum steht also die hoch geschätzte antike Geschichte unkommentiert neben der Fremdzuschreibung als rückständige Gesellschaft und das passt dann doch ganz gut dazu, wie Griechenland sich auch heute noch zwischen verschiedenen Einflusszonen orientiert, um Anerkennung in Europa bemüht ist und gleichzeitig eng in den Mittelmeerraum mit seinen Einflusskräften eingebunden ist.

Im Gegensatz zu dieser „Geschichtsdarstellung“ versteht sich das noch recht neue Akropolis-Museum ganz klar als Wissenschaftsinstitution mit Haltung. Informativ und ohne Verklärung wird man hier durch die Geschichte der Akropolis geleitet.

Am Ende widmet sich die Ausstellung ebenfalls dem britischen Einfluss im 19. Jahrhunderts, aber mit gänzlich anderem Ton. Hier stehen die Elgin-Marmore im Fokus, die Friese und Statuen, die Lord Elgin 1801 auf der Akropolis entnommen und ins Britische Museum nach London verkauft hat und um die sich seit dem ein Restitutionsstreit entbrennt, der bis heute nicht beigelegt ist, weil sich Großbritannien weigert, die Objekte zurückzugeben.

Dieser Konflikt macht beispielhaft deutlich, wie Griechenland zwar eine idealisierte Wiege europäischen Geistes ist, aber nicht immer als Teil des „zivilisierten“ Europas verstanden wurde und bis heute nicht gleichermaßen souverän mit seinem Kulturerbe umgehen darf. Diese Sicht wird auch in den abwertenden Umgang mit Griechenland im Rahmen der Weltwirtschaftskrise in 2008 deutlich.

Was bedeutet das unterm Strich: Obwohl die Geschichte, die in Athen so primär im Fokus steht, schon über 2000 Jahre zurückliegt, ist sie bis heute hochpolitisch.

Für die Füße

Auch wenn es schade ist, dass man letztlich von Athen nur einen kleinen Teil zu sehen bekommt, kann man zu Fuß einiges erkunden, von den schwer touristischen Vierteln Syntagma und Monastiraki

bis hin zu den schon etwas belebteren Vierteln Kolonaki (teuer und schick)

Koukaki (südlich der Akropolis und sehr mittelständig)

bis nach Exarhia (studentisch und alternativ).

Für den Bauch

Um zwei Dinge muss man sich, egal wo in Athen, nie Gedanken machen: Die Dichte an Cafés ist unglaublich hoch und zu Essen bekommt man auch immer etwas.

Für einen guten Kaffee können wir empfehlen:

Samba Coffee Roasters (Kolonaki)

Deux Monsieurs (Kolonaki)

Taresso (Kolonaki)

Motiv (Exarhia)

Anana (Syntagma)

Caffeine Dealer (Koukaki)

Gutes Essen gibt es durchaus auch in touristischen Ecken, z. B. zu Mittag in der Taverne „Kyklamino“ mitten in der Altstadt

und selbst im gehypten Restaurant Nolan. Der Hype ist real, es war ganz wunderbar mit einer angenehmen Mischung aus Fisch und Gemüsegerichten.

Zum Weiterschauen oder -lesen

Auch wenn die Sache mit der Erfindung der Demokratie nicht ganz der Wahrheit entspricht, hat die griechische Klassik uns auf jeden Fall eine Sache geschenkt: Geschichten über Gottheiten und Helden, die jede melodramatische Soap in den Schatten stellen. Für ein bisschen Pantheon-Feeling empfehlen wir die animierte Arte-Serie „Die großen Mythen“ (auf Youtube verfügbar) und die Bücher „Mythos“ und „Helden“ von Stephen Fry.