Marokko Blues

Neben Marrakesch waren wir im Rahmen unseres Marokko Urlaubs auch noch an der Atlantikküste in Essaouira und Taghazout und sind dafür mit dem Auto durchs Land gefahren. Dabei haben wir uns so unsere Gedanken gemacht darüber, welche Themen sehr offensichtlich die marokkanische Gesellschaft beschäftigen: die Migrationsgeschichte und die Diversität der Gesellschaft, Ökologie und die Folgen des Klimawandels und die immer noch spürbaren Konsequenzen der kolonialen Geschichte.

Repräsentanz und kulturelle Vielfalt

Marokko ist ab dem 7. Jahrhundert arabisiert worden und noch bis heute ist unsere Vorstellung die, in einem arabischen Land unterwegs zu sein. Doch das ist wie immer nur die halbe Wahrheit, denn natürlich gibt es viel mehr ethnische und kulturelle Einflüsse, die schon lange wesentlich zu dem beigetragen haben, was wir heute als „marokkanische“ Kultur verstehen und wofür wir in dieses Land reisen.

Essaouira und schwarzafrikanische Musik

Die Hafenstadt Essaouira erlebte ihren ersten massentouristischen Hype in den späten 1960er Jahren, als unter anderem Jimi Hendrix und die Rolling Stones hier auftauchten, um sich von einer speziellen Musikrichtung – der Gnaw Musik – inspirieren zu lassen.

Essaouira ist schön und einen Besuch wert,

aber die Gnaw Musik ist nicht marokkanisch im historischen Sinne. Gnaw Musik kam mit versklavten Menschen aus dem subsaharischen Westafrika nach Marokko, deren Nachfahren bis heute eine Minderheit innerhalb der Gesellschaft stellen, und ist sowohl in vorislamischen und islamischen Glaubensvorstellungen verankert. Das kleine Museum für Musikinstrumente in Marrakesch gibt einen Überblick über die musikalischen Einflüsse in Marokko.

Wenn also auch schon lange Teil der marokkanischen Gesellschaft und ein wichtiger Teil der internationalen Anziehungskraft für Tourist*innen, sind Schwarze Migrant*innen in Marokko trotzdem eine sozial schlechtergestellte Bevölkerungsgruppe, die allerdings weiter wächst. Marokko ist nicht nur Transitland für die Migration nach Europa sondern, aufgrund der verschärften Einreisemöglichkeiten, auch selbst Einwanderungsland für Menschen aus der Subsahara. Zukünftig wird Marokko als nicht darum herum kommen, sich mit diesem Aspekt seiner Demografie stärker auseinander zu setzen.

Imazighen Kunst und Handwerk

Um erobert und arabisiert werden zu können, müssen erstmal Menschen da sein. Und diese Bevölkerungsgruppen, die bereits vor dem 7. Jahrhundert unter anderem im Territorium des heutigen Marokko gelebt haben, werden häufig als „Berber“ bezeichnet. Da das Wort allerdings seinen Ursprung im griechischen bzw. lateinischen Wort für Barbaren hat, ist es eine abwertende Fremdbezeichnung, die die so benannten Menschen ablehnen. Die Selbstbezeichnung lautet Amazigh bzw. Imazighen. Bedauerlich also, dass z. B. das Museum rund um ihre Kleidungs- und Schmucktraditionen im Jardin Majorelle trotzdem immer noch als Musee des Artes Berbères bezeichnet wird.

Auch ihr sozialer Stand in Marokko ist schon immer schwierig gewesen. Zwangsislamisiert, als ursprünglich und naturverbunden verklärt, sozial abgehängt, waren sie lange Zeit nicht im Fokus, wenn es um die marokkanische Kultur ging. Aber ihr Einfluss, vor allem im Handwerk und der Kunst ist so maßgeblich, dass sie nicht zu ignorieren sind.

Bei unserem Besuch ist uns ebenfalls aufgefallen, dass neben Arabisch und Englisch auch immer mehr Ausschilderungen in der Sprache Tamazight (und ihrem Alphabet Tifinagh) zu sehen sind. Seit 2011 ist Tamazight in Marokko offizielle Amtssprache, nachdem es erst in den 1990er Jahren wieder im offiziellen Schulunterricht aufgetaucht ist. Das ist sicherlich ein wichtiger Schritt, aber auch nur einer dahin, die Bedeutung der Amazigh Kultur und Kunst für Marokko so wertzuschätzen, wie das angemessen wäre.

Denn nach wie vor bedienen sich die gefeierten, arabisch-stämmigen Künstler*innen Marokkos häufig an den Amazigh Einflüssen, aber Künstler*innen aus den Imazighen Bevölkerungsgruppen haben kaum Zugang zu einem breiten Publikum. Ein typisches Beispiel hierfür ist der verstorbene Farid Belkahia, dessen Anwesen in Marrakesch besichtigt werden kann. Als Maler und Bildhauer verwendete er typische Amazigh Symbole, handwerkliche Techniken und Schriftzeichen und wurde dafür national und international gefeiert, während seinen Amazigh Kolleg*innen diese Ehre fast immer verwert bleibt.

Das Erbe des Kolonialismus

Wobei wir beim nächsten „historischen“ Thema sind. Marokko war, wie andere Regionen in Nordafrika, Teil der „Orient“-Begeisterung Europas im 18. und 19. Jahrhunderts und damit eine Projektionsfläche für allerlei Fantasien und mythischen Vorstellungen als Gegenentwurf zu den restriktiven gesellschaftlichen Bedingungen im oh so modernen Europa. Diese zunächst noch kulturelle Übernahme wird (nach Edward Saids wissenschaftlicher Aufarbeitung) als „Orientalismus“ bezeichnet und schlägt sich in Gemälden und Literatur nieder, die ein Bild der Weltregion, ihrer Kultur und Menschen zeichneten, die wenig mit der Realität zu tun hatten aber dafür unsere Vorstellung vom sogenannten „Orient“ bis heute prägen.

Sehr schön ist das im Orientalist Museum in Marrakesch anhand der dort ausgestellten Bilder zu erkennen.

Nach dem Orientalismus kam dann noch in Form des französischen Protektorats die militärische und verwaltungstechnische Übernahme aus Europa, der kulturelle Traditionen im Zuge der „Zivilisierung“ zum Opfer gefallen sind. Doch was ist davon heute übrig?

Übrig ist die Feststellung, dass diejenigen, die aktuell in Marrakesch und anderswo im Land die schönsten Riads und Gärten restaurieren, die schicksten Boutiquen und besten Restaurants betreiben, um vom touristischen Interesse zu profitieren, keine Marokkaner*innen sind, sondern weiße Europäer*innen (so wie auch in unserer Unterkunft Dar Titrit oder dem schön restaurierten Jardin Secret). Einheimische sind angestellt und erbringen die dazugehörigen Dienstleistungen, aber sie verfügen nicht über die nötigen Möglichkeiten, um in ihrem eigenen Land in dem Maße zu profitieren, wie das Investor*innen und zugezogene Europäer*innen auf der Suche nach der orientalischen Fantasie und dem damit verbundenen Geld tun.

Traumhaft, nicht wahr? Der „Orient“ als verwunschene andere Welt, die doch so ideal für europäische Bedürfnisse gestaltet ist, bringt noch bis heute Besucher*innen hierher. Häufig nicht im Gepäck ist dabei ein echtes Interesse für die tatsächlichen Zustände in Marokko.

Die Klimakrise in Marokko

Und zu diesen zählen natürlich auch die Frage der Umweltzerstörung im Namen des Tourismus und die Folgen der Klimakrise.

Unsere Reise hat uns über Essaouira (das im Müll versinkt) nach Taghazout geführt, einem recht bekannten Surf-Ort an der Atlantikküste.

Viel ist hier nicht los, denn es geht ums Surfen. Und ums Golfen, und ums in großen Resort-Anlagen in der Sonne liegen. Und darum Smoothie Bowls und Pancakes in hippen Surf-Cafés zu essen.

Der Ort Taghazout ist inzwischen in zwei Hälften geteilt. Dazwischen erstrecken sich riesige Hotel- und Apartmentanlagen. Und es wird sehr fleißig weitergebaut. Da bleibt von der Küste, für die man hierher kommt, dann nicht mehr so viel zugänglich.

Hinter Taghazout geht es in das Gebiet des Anti-Atlas. Von hier stammt einer von Marokkos bekanntesten „Rohstoffen“ – das Arganöl. Gleichermaßen in der Kosmetik wie in der Küche beliebt und in einem kleinen (und vermutlich sehr teuer gebauten aber viel zu wenig besuchten) Museum in Taghazout in all seinen Facetten vorgestellt. Argan ist heiß begehrt und wird vor allem von Frauen-Kooperativen geerntet und verarbeitet. Das wirkliche Geld damit machen aber zum Schluss internationale Kosmetikkonzerne.

Im Anti-Atlas, noch nie eine besonders grüne Oase der Vegetation, hat es in den letzten Jahren kaum bis gar nicht geregnet.

Das ist nicht nur landwirtschaftlich ein Problem in der dünn besiedelten und wenig entwickelten Region. Der Anti-Atlas lockt mit natürlichen Attraktionen wie Wasserfällen oder dem Paradise Valley (einem Tal mit kleinen Seen) Tourist*innen an, damit diese dann Geld fürs Parken, Essen, Trinken und Souvenirs ausgeben. Das ist in guten Zeiten schon eine sehr prekäre Angelegenheit, aber wenn dann noch das Wasser fehlt und der Wasserfall nicht mehr fällt, wird es kritisch.

Wie immer viele Themen, die eben auch dazu gehören, wenn man in den Urlaub fährt. Zumindest für uns. Smoothie Bowls in Marokko gibt es dann halt nur mit einem Schuss ökonomischem und ökologischem Bewusstsein dafür, welche Rolle wir in diesem System spielen.