Modellstadt Margate, England

Schon mal von Margate gehört? Hätten wir auch nie, hätte nicht eine Band namens The Libertines hier vor ein paar Jahren eine Art Hauptquartier eingerichtet. Somit war der Anlass unseres Besuchs in dieser englischen Küstenstadt der Wunsch, einmal im band-eigenen Hotel zu übernachten.

Margate hat uns dann allerdings sehr überrascht. Doch von Anfang an …

Margate ist ein Ort an der Kalksteinküste Englands, südöstlich von London, hat rund 65.000 Einwohner*innen und wurde 1254 gegründet. Seit Mitte des 18. Jahrhunderts entwickelte sich Margate zu einem beliebten Seebad und ist dies bis heute, auch wenn der viktorianische Pier 1978 durch einen Sturm zerstört wurde. Auch pop-kulturell hatte Margate schon immer etwas zu bieten, nicht zu letzt fanden auch hier in den 1960ern Prügeleien zwischen Mods und Rockern statt.

Doch dann kamen die 80er und 90er Jahre und für Margate der wirtschaftliche und soziale Abstieg. Dafür gab es diverse Gründe:

  • mehr und mehr Menschen zogen Flugreisen dem Urlaub im eigenen Land vor, englische Seebäder kamen aus der Mode
  • nicht nur blieb damit das Geld aus, Hotels wurden in Wohnhäuser umgebaut und die touristische Infrastruktur verfiel zunehmend
  • um die Stadtansicht nicht zu stören, hatten Industrieunternehmen über Jahrzehnte keine Erlaubnis bekommen, sich in Stadtkern-Nähe anzusiedeln. Nun fehlten diese alternativen Arbeitgeber
  • hohe Arbeitslosigkeit gepaart mit Inflation seit den 1980ern taten ihr Übriges

Das geht an einer Stadt nicht spurlos vorbei und auch wenn sich heute ein anderes Bild von Margate präsentiert, sind die Auswirkungen dieses Abstiegs noch deutlich zu spüren. Aber erstmal all das, was uns positiv überrascht hat.

Musik, Kunst, Kulinarik

Als Fans von Live-Musik fiel uns als erstes auf, dass es in Margate mindestens 9 Veranstaltungsorte für Konzerte gibt. 9 auf 65.000 Einwohner*innen. Vom kleinen Bandstand – einen Parkpavillion an der Promenade – bis zur großen Bühne im Freizeitpark „Dreamland“ sind so ziemlich alle Größen vorhanden. Und das Line-Up ist hochkarätig. Die Auswahl an Konzerten, Bands und Genres in Margate ist nicht viel schlechter als in Berlin.

Und überhaupt das Dreamland. Dieser Freizeitpark ist ein Wahrzeichen von Margate, mit seiner altmodischen Eingangshalle, komplett mit Rollschuhdisko, seinen Fahrgeschäften, vor allem dem weithin sichtbaren Riesenrad und den vielen Veranstaltungen, die hier in der Sommersaison stattfinden.

Außerdem liegt Margate am Meer – Strand, Brandung, Möwen, Muscheln, eine frische Brise … mehr muss man nicht sagen.

In der süßen, kleinen Altstadt von Margate findet sich keine typische Ladenkette, dafür aber kleine Boutiquen, Second-Hand-Läden, Restaurants und Pubs, kleine Galerien mit lokaler Kunst und ein Buchladen, der 7 Tage die Woche offen hat. Das vermittelt ein ganz gutes Gefühl dafür, worauf man hier Wert legt.

Und ähnlich sieht es auch in Cliftonville aus, dem Coolness-Epizentrum mit Cafés, Bars, nostalgischen Dinern und kleinen Läden.

Und dann natürlich die beiden großen Treiber der Veränderung. 2011 eröffnete das Kunstmuseum Turner Contemporary, benannt nach William Turner, einem Landschaftsmaler aus Margate. In diesem architektonisch auffälligen Museum für moderne Kunst werden Ausstellungen kuratiert, die Strahlkraft weit über Margate hinaus haben.

Ergänzend dazu kam 2019 die Carl Freedman Gallery nach Margate und schuf damit einen weiteren Anlaufpunkt für moderne Kunst. Wir haben hier die großartige Studio Lenca-Ausstellung gesehen.

Ab Mitte der 2010er Jahre wurde Margate wieder cool und ist es noch heute, nicht zuletzt wegen der vielen „DFL“ – Down from London – Menschen, die aus London in die Stadt kommen, sei es zu Besuch oder, um sich hier langfristig anzusiedeln.

Und damit sind wir noch lange nicht am Ende der Liste positiver Eindrücke angekommen, die uns in Margate erwartet haben:

Es gibt mehrere lokale Zeitungen und Magazine, die ausführlich über das Stadtgeschehen informieren. Im Stadtbild finden sich Kirchen, Moscheen und eine Synagoge nebeneinander. Es gibt diverse queere Räume und wahnsinnig viele Möglichkeiten, Teil der lokalen Gemeinschaft zu sein. Von Kursen zum Polstern, Pflanzenpflege und allen möglichen weiteren Hobbies, über gemeinschaftliche künstlerische und naturnahe Aktivitäten ist so ziemlich alles dabei.

Margate scheint zu signalisieren: wenn ihr hierher kommt, dann macht auch mit und bringt euch ein. Besagte Band, in deren Hotel wir übernachtet haben, hat deshalb auch nicht einfach nur ein Hotel eröffnet (wobei man transparenterweise sagen muss, dass das Hotel im Juli diesen Jahres schließen wird). Das Hotel hat ein Pub, der lokalen Musiker*innen eine Bühne bietet, und ein Tonstudio – und das Hotel wird als Tonstudio mit Übernachtungsmöglichkeiten auch zukünftig weiter existieren, aber eben nur noch für Musiker*innen, nicht mehr für reguläre Besucher*innen. Man betreibt im Ort auch einen Musik-Club und man sponsert den Fußballverein von Margate.

Das kulinarische Angebot in Margate ist auch super. Es gibt sehr gute Restaurants, sowohl mit gehobener als auch mit entspannter Atmosphäre. Wir wollen nur zwei Beispiele herausstellen:

Auf der Hafenmauer gibt es das kleine aber feine Sargasso. Top Qualität, Top Service, köstliche Gerichte.

Ebenfalls am Hafen liegt Beach Buyos, ein Imbiss mit frisch verarbeiteten Meeresfrüchten, veganen und glutenfreien Optionen, die man sich zum Mitnehmen schnappt, um sich direkt an den Strand zu packen.

Und was Kaffee angeht, steht Margate auch größeren Städten in nichts nach. Wir können empfehlen:

Cliffs, nicht nur ein Café, sondern Plattenladen, Co-Working und Friseur in einem.

Curve Coffee Roasters

Forts

Garage Coffee Roasters

und wenn man mal stehen will, wo die Queen schon mal stand, dann geht man zu Wildes:

Die dunkle Seite

Also alles perfekt in Margate? Natürlich nicht. Solange Margate primär vom Tourismus lebt, gibt es zwei Jahreszeiten: die Saison und die Monate, in denen nichts los ist. Da helfen auch die Zugezogenen nicht wirklich. Und Jahrzehnte des Verfalls lassen sich auch nicht mal in ein paar Jahren wett machen.

In vielen Bezirken Margates sieht man den schlechten Zustand der Häuser. Verfallen, verlassen oder heruntergekommen. Müll auf den Straßen und am Strand ist ein offensichtliches Problem, genauso wie das soziale Gefälle. Denn wie immer hat die Gentrifizierung, wie sie in Margate gerade stattfindet, auch soziale Verlierer*innen. Mieten und Hauspreise steigen, ohne dass es signifikant mehr Arbeitsplätze geben würde. Die bisherigen Bewohner*innen können sich ihre Viertel zusehend nicht mehr leisten. Entsprechend schlecht fällt die Bilanz für Margate immer noch aus:

  • Die Lebenserwartung liegt bei 73 Jahren, die niedrigste in ganz UK
  • gleichzeitig landet der Landkreis Thanet, zu dem Margate gehört, auf Platz 9 der Orte im Land mit den meisten Todesfällen aufgrund von Heroin und anderen Opiaten
  • Obdachlosigkeit ist deutlich sichtbar, vor allem in Strandnähe, was zu Konflikten mit den Besucher*innen führt
  • die Mehrheit der Bevölkerung hatte sich für den Brexit ausgesprochen, mit dem Hauptargument, dass die Migration eingeschränkt werden muss. Alltagsrassismus ist in Margate wenig überraschend ein großes Problem und bei allem Nebeneinander und Miteinander ein Faktor, der das Ansehen der Stadt zum Negativen beeinflusst

Es wäre Margate also zu wünschen, dass das positive Momentum noch weiter anhält und die Investitionen in Stadtentwicklung und Kultur noch mehr Früchte tragen, von denen die Mehrheit der Bevölkerung profitieren kann.